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Hochtour im Wallis - Bericht über einen Spaltensturz

von Rudi Berners

Abb Der Tag beginnt für Eckhard, Udo und mich sehr geruhsam: Wir stehen spät auf; hat es doch gestern den gesamten Tag bis in die Nacht hinein geschneit. Am Vincentjoch standen wir mittags im Schneegestöber und maßen eine Temperatur von –10° bei sehr heftigem Wind.
Viel war also nicht zu erwarten für heute. Doch als wir einen Blick aus dem Fenster werfen, sehen wir, wie sich eine Schlange von ca. 25 Bergsteiger den Weg von der 3611m hoch gelegenen Gnifettihütte über den Lisgletscher in Richtung Lisjoch bewegt. Außerdem scheint inzwischen die Sonne, - von ein paar kleinen Wölkchen abgesehen.

Schneefahnen an den Graten vom Liskamm und an der Vincentpyramide geben einen Vorgeschmack auf unvermindert anhaltenden Wind und niedrige Temperaturen. Man kann sie verstehen, die Wochenendbergsteiger, die am Vortag mit der Seilbahn von Alagna-Valsesia zur Punta Indren gekommen sind um dann in 1,5 Stunden zur Gnifettihütte in 3611m Meereshöhe aufzusteigen.

Bei dem schönen Sonnenschein wollen wir auch noch den Weg über das Lisjoch zur Signalkuppe, dem Berg auf dem das höchstgelegene Unterkunftshaus Europas, die Capanna Regina Margherita steht, angehen.
Wir seilen uns an und betreten gleich hinter der Hütte den stark zerklüfteten Lisgletscher. Sofort macht sich die Schneemenge bemerkbar: Spalten, die gestern noch zu sehen waren, lassen sich jetzt nur noch erahnen; und die Spalten die gestern nur zu erahnen waren erkennt man erst dann, wenn man drinsteckt.
Höchste Vorsicht und genaues Beobachten war also angesagt. Ich war froh, ohne Spalteneinbruch bis zum Aufschwung zum Lisjoch gekommen zu sein, denn auch die Spur der Vorgänger war in weiten Teilen buchstäblich in kurzer Zeit wieder vom Winde verweht.

  Nach einigen Serpentinen auf der neu angelegten Spur, vorbei an den gähnenden Abgründen riesenhafter Spalten, sehen wir eine Viererseilschaft einige hundert Meter höher absteigen. Als ich um die nächste Serpentinenkehre gehe, sehe ich nur noch einen der Bergsteiger, und zwar liegend auf dem Bauch. In fünf Minuten sind wir bei ihm.

Abb Trotz erheblicher Verständigungsprobleme erfahre ich, dass drei Bergsteiger der italienischen Seilschaft in die Gletscherspalte, die sich bergseitig von dem liegenden Mann auftut, eingebrochen sind. Zu einer weiteren Unterhaltung reichen weder unsere Kenntnisse in Italienisch noch die der Verunglückten in Deutsch oder Englisch. Als erste Maßnahme befestigen wir die Gestürzten mit einem Knoten an einem eingerammten Pickel.
Als wir dann den Seilletzten aus seiner unbequemen Lage befreien wollen, müssen wir feststellen, dass er an seinem Brustgurt direkt eingebunden ist. Da der Mann mir sehr hektisch und nervös erscheint, schneiden wir ihn nicht vom Seil ab. Die Gefahr, dass sich der Mann sonst selbst in einer anderen Spalte wiederfinden könnte, ist mir zu groß. Nach ca. 10 Minuten am Unfallort kommen im Abstieg zwei verängstigt aussehende Bergsteiger, die nur mit einer Reepschnur aneinander gebunden sind, den Gletscher herabgestiegen. Ihr Angebot, in der Gnifettihütte Bescheid zu geben, wird offenbar vom Seilletzten, der immer noch auf dem Bauch liegt, angenommen. Zwischenzeitlich ist ein doppelter Flaschenzug aufgebaut, worden. Aber die Zugkraft reicht längst nicht aus, um die drei Gestürzten aus der Spalte zu befreien. Der Seilletzte weist jetzt energisch auf ein Reserveseil hin, das in seinem Rucksack verstaut ist. Das weitere Vorgehen wird dadurch sehr begünstigt. Eckhard steigt in die Spalte ab und kann das zweite Seil am Seildritten anbringen. Zu seinem Vorteil ist der Seildritte mit einem Karabiner an Brust- und Sitzgurt angeseilt. Eine Minute später ist er wieder am Tageslicht. Eckhard steigt wieder ab, um den Seilzweiten an das Reserveseil anzuhängen. Am Zeitbedarf erkenne ich, dass es hier größere Schwierigkeiten gibt. Der Seilzweite hatte sich das Bergseil nur um den Bauch gebunden. Wie sich später herausstellt, wählte auch der Seilerste diese Unart des Anseilens.

Zwei Beamte der Guardia di Finance, dem italienischen Zoll, die wir bereits am Vortag in der Gnifettihütte kennengelernt hatten, kamen bei ihrem Abstieg vom Lisjoch ebenfalls an den Gestürzten vorbei. Sofort begannen sie mit dem Aufbau einer Sicherung, um die Gestürzten zu bergen. Schnell erkannten sie jedoch, daß unsere Rettungsmaßnahmen schon sehr weit fortgeschritten waren und führten dann die Arbeit gemeinsam mit uns zu einem glücklichen Ende.
Schon bald konnte der Seilzweite aus der Spalte gezogen werden. Eckhard hatte das Seil um seinen Bauch durchschneiden müssen und ihn am Rucksack an das rettende Seil angebunden. Zur Rettung des Seilersten stieg einer der Zöllner etwa 20m tief in die Spalte. Am Bergseil wurde der Verunglückte dann vorsichtig nach oben gezogen. Ein paar Schürfwunden und kleine Schnittwunden von der zerbrochenen Sonnenbrille waren die einzigen Verletzungen, die der Mann davontrug. Die Gestürzten waren alle nur sehr leicht verletzt und konnten aus eigener Kraft ihren Weg zur Hütte fortführen. Man kann hier sicher vom Glück im Unglück reden. Auch wir setzen unseren Weg nicht fort, sondern steigen zur Hütte ab. Die Schneeverhältnisse hatten sich während der einstündigen Rettungsaktion weiter verschlechtert.
Was wurde falsch gemacht?
Was führte zum Spaltensturz und was erschwerte die Rettungsarbeiten?

Der starke Wind und der Neuschnee führten zu schlecht erkennbaren Brücken selbst über große Gletscherspalten. Diese Tatsache wurde von den offenbar unerfahrenen Italienern ignoriert. Es wurde ein relativ kurzes Seil von etwa 25-30m eingesetzt. Eine Seilreserve für schnelle Rettungsmaßnahmen gab es nur in Form des mitgeführten Zweitseiles. Trotz der Länge von ca. 5-6m Seil zwischen den Bergsteigern wurde beim Gehen ein Abstand von höchstens zwei Metern eingehalten. Beim Spaltensturz konnte es so zum freien Fall kommen, dessen Wucht für die Kameraden nahezu unhaltbar ist. Schließlich sind ja nicht nur der Seilerste, sondern auch die beiden Nachfolgenden eingebrochen.
Dass der Seilletzte den Sturz abfangen konnte, ist wohl die Folge davon, dass er sich springend über die 60cm breite Spalte bringen konnte und der Seilerste bereits im unteren Teil der Spalte verkeilt war. Von der Talseite der Spalte aus konnten bessere Haltekräfte erzielt werden als dies von der Bergseite aus möglich gewesen wäre. Der Pickel des Seilletzten war nicht am Anseilgurt befestigt. So konnte es kommen, dass dieses wichtige Werkzeug auf der anderen Spaltenseite liegenblieb. Noch schlimmer: Auch für den weiteren Weg wäre ein Totalverlust des Pickels, zum Beispiel durch das Abrutschen in die Gletscherspalte, möglich gewesen.

Der einzige Bergsteiger der Seilschaft, der korrekt für die Begehung eines Gletschers angeseilt war, konnte auch am leichtesten aus der Spalte befreit werden. Das Anseilen um den Bauch oder nur mit einem Brustgurt kann rasch zum Hängetrauma mit Todesfolge führen. Die enge Spalte ließ zum Glück ein Abstützen der Gestürzten an den Eiswänden zu, so dass die Belastung durch das Bergseil gemindert wurde. Durch eine vernünftige Anseilart (Brust- und Sitzgurt mit einem Schraubkarabiner eingebunden) wäre auch das Durchtrennen des Seiles beim Seilzweiten nicht notwendig gewesen. Eine erhebliche Erschwernis bei der Rettungsaktion war die mangelhafte Kommunikationsmöglichkeit. Besonders bei Fahrten im Ausland sollten diese Schwierigkeiten künftig stärker berücksichtigt werden.

Als positiv erwies sich, dass auch Eckhard und Udo über Kenntnisse und Übungserfahrung, unter anderem auch aus unserem Eiskurs für Anfänger im letzten Jahr, verfügten. Ein derartiger Kurs wird mit Sicherheit ein weiteres Mal in unser Tourenprogramm aufgenommen.
Nach dieser Rettungsaktion stiegen wir ins Tal ab und fuhren zurück ins Mattertal.

 

 

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