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Die allerschönste Blume - Eine Geschichte über den Löwenzahn

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Die allerschönste Blume - Eine Geschichte über den Löwenzahn von Hermann Löns (1866-1914)

Alle Blumen ohne Ausnahme sind schön.

Auch die kleinen und unscheinbaren haben ihre Schönheiten, auch die seltsamen und unheimlichen ihre Reize.

 

Man kann nicht sagen, welche Blume am schönsten ist.

Der eine liebt der edlen Rose volle Formen, der andere des Heckenrösleins schlichte Gestalt.

Dieser wieder freut sich an des Maiglöckchens zierlichem Blau, jener an der Würde der Lilien.

Den dünkt keine herrlicher als des Flieders leuchtende Rispe, der wieder zieht der Heide winzige Blüte vor.

Auch die Blumen sind der Mode unterworfen, auch von ihnen werden einige heute gefeiert und morgen missachtet.

Dem Tulpenkultus folgte der Dahliensport, dann errang die Hyazinthe große Erfolge, diese wich dem Chrysanthemum, das jetzt vor den wunderbaren und wunderlichen Orchideen der Tropen in den Hintergrund tritt.

 

Auch die wilden Blumen sind von der Mode abhängig, wenn auch nicht so sehr wie die Gartenblumen.

Immer hat man das Windröschen geliebt, stets hat man sich am ersten Veilchen gefreut, zu allen Zeiten Himmelsschlüssel gebrochen.

 

Eine Blume aber war nie modern und wird nie modern werden. Sie ist zu gewöhnlich, zu gemein.

 

Sie steht an jedem Wege, sie wächst auf allen Wiesen, blüht auf jedem Anger, selbst zwischen den Pflastersteinen fristet sie ihr Leben und wuchert auf dem Kies der Fabrikdächer.

Jedes Kind kennt sie, jeder Mensch weiß ihren Namen, alle sehen sie, aber keiner macht Aufhebens von ihr, sagt, dass sie schön sei.

Das ist der Löwenzahn, die Butterblume, die Kuhblume, die Kettenblume der Kinder, deren kleine goldene Sonnen in jedem Rasen leuchten, in jedem Grasgarten strahlen, an allen Rainen brennen, so massenhaft, so tausendfach, so zahllos, dass man sie nicht mehr sieht, weil man sie überall zu sehen gewohnt ist.

 

Und deshalb hält man es nicht für der Mühe wert, sie zu betrachten und sich ihrer feinen Schönheit, ihrer vornehmen Form, ihrer leuchtenden Farbe zu erfreuen.

Nur die Kinder lieben sie. Vielleicht nicht deshalb, weil ihnen die Schönheit dieser Blume zum Bewusstsein kommt, sondern deshalb, weil sie die einzige ist, die sie immer und überall pflücken dürfen.

Kein Wärter knurrt, kein Bauer brummt, wenn die Kleinen sich ganze Hände voll davon abrupfen; sie sehen es sogar gern, denn es ist ein böses Unkraut, der Löwenzahn, ein Grasverdränger und Rasenzerstörer, gegen den alle Arbeit und Mühe nichts hilft.

Eine Woche lang kann die alte Frau sie mit steifen Rücken mühsam bückend Busch an Busch aus ihrem Grasgarten stechen; der Wind bläst die Samen heran, die lustigen braunen Kerlchen mit dem silbernen Federkrönchen, niedliche grüne Pflänzchen wachsen auf ihnen, treiben feste Pfahlwurzeln in den Boden, und über das Jahr kann die alte Frau wieder in ihrem Garten stehen und jäten, bis ihr das Kreuz lahm ist.

Als die alte Frau noch ein kleines Ding war, hat sie sich nicht über die Butterblumen geärgert.

Da hat sie sich die ganze Schürze voll davon gesammelt, hat sich unter den alten Apfelbaum gesetzt in das grüne, mit weißen Apfelblütenblättern dicht bestreute Gras, hat Stiel um Stiel gedreht, bis der Kranz fertig war, ihn sich auf das blonde Haar gesetzt, ist in die Stube gelaufen, auf den Stuhl geklettert, hat vor dem Spiegel lachend in die von dem Milchsaft der Stängel schwarz und klebrig gewordenen Händchen zusammengepatscht und gemeint, sie sei die Königin.

 

Und da eine Königin nicht nur eine Krone, sondern auch Geschmeide haben muss, so ist die Königin in den Grasgarten gegangen, hat sich wieder auf ihren grünen, weißgestickten Thron unter den rosenroten und schneeweißen Baldachin gesetzt, hat vielen Kettenblumen die Köpfe abgerissen und die hohlen Stängel fein säuberlich ineinander gesteckt, einige Blumenköpfe dareingeflochten und sich wunderbar schöne Ohrringe gemacht und herrliche Armbänder und eine Kette, dreimal um den Hals.

Und weil eine Königin auch ein Zepter haben muss, so hat sie mit ihrem Daumennagel viele Kettenblumenstängel oben fein gespalten, in den Brunnentrog gelegt, damit sie sich kräuseln, und sie dann mit roter Strumpfwolle um eine Rute gebunden.

 

Und nun hat sie ein Zepter, das sah in der Sonne aus, als hätten es die Zwerge aus Mondscheinstrahlen geschmiedet und mit Sonnenstäubchen bestreut.

 

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Am andern Tage war freilich die ganze goldene Herrlichkeit welk und schlaff, aber das schadete nichts, denn überall wuchsen Kettenblumen, und kein Mensch wehrte es der Kleinen, sie zu pflücken.

 

Und als der Blumen goldenes Blond zu silbernem Weiß verblichen waren, auch da noch boten sie dem Kinde lustigen Zeitvertreib; mit vorsichtigen Fingchen brach sie die Stiele, hielt die silbernen Kugeln vor ihr Stupsnäschen, machte aus ihren roten Lippen ein spitzes Schnäuzchen und pustete in die weiße Kugel hinein, dass die braunen Männchen mit den silbernen Federkrönchen sich so sehr erschraken, dass sie alle schnell davonflogen.

 

So haben es wohl alle Kinder gemacht, die unter blühenden Apfelbäumen im Mai spielen durften, und darum war ihnen die Kettenblume die liebste Blume und schien ihnen die allerschönste zu sein.

 

Später vergaßen sie sie über Nelken und Levkojen und Flieder und Tulpen, aber ganz tief in ihrem Herzen klang doch ein Lied aus alter Zeit, wenn sie im Mai im grünen Gras die erste Butterblume blühen sahen, unwillkürlich grüßten ihre Augen mit zärtlichem Blick die goldene Blüte am Wege.

 

Stände sie nicht am Wege und blühte sie nicht an der Straße, wüchse sie in fernen Ländern, wir hielten sie wohl hoch, fänden Worte des Lobes für die vornehme Form ihres Blattes, bewunderten das tiefe Dukatengold ihrer Blüten, deren Blättchen sich zu einem lockeren Polster wölben.

 

Dichter würden sie besingen, Maler sie nachbilden, und die Märchenerzähler wüssten allerlei von ihr zu melden.

 

Tränen wären es, würden sie schreiben, die die Sonne weinte, als sie so viel Blut und Elend unter sich sah; Zwergendukaten wären es gewesen, die sich in Blumen umwandelten, als unreine Hände danach griffen; zu dieser Deutung hätte die Blume geführt, die heute goldblond blüht und morgen silbernes Greisenhaar trägt.

 

Da sie aber am Zaune blüht, zwischen Scherben und Schutt, so tritt man sie unter die Füße und achtet ihrer nur, wenn sie den Rasen verdirbt und das Gras verdrängt.

 

Wäre sie aber nicht da, wir würden sie sehr vermissen. Nicht so frisch würde uns das junge Gras dünken, nicht so herrlich des Apfelbaumes Blütenschmuck; eintönig schiene uns der Rain und langweilig der Grabenrand.

Des Finken Schlag und der Grasmücke Sang, der Stare Pfeifen und der Schwalbe Zwitschern, weniger lustig würden sie uns klingen, fehlten unter den blühenden Bäumen, dem grünen Grase die goldenen Sönnchen, des Maies froheste Zier.

 

Tausendfach strahlen sie, zahllos leuchten sie, bringen Licht in den Schatten und Wärme in die Kühle.

 

Winzige Abbilder der Sonne sind es, ganz aus reinem Golde gemacht, ganz ohne einen dunklen Fleck.

 

Man könnte meinen, jeder Sonnenstrahl, der zur Erde fiel, hätte Saft und Kraft bekommen und sich in eine Blume verwandelt, in eine Blüte, golden wie die Sonne und rund und strahlend wie sie.

 

Es mag ja auch so sein; irgendein tiefer Zusammenhang besteht zwischen der Sonne und ihrem Abbilde.

 

Je heißer die Sonne scheint, je weiter öffnen sich die gelben Blumen, als könnten sie nicht genug Glanz und Glut einsaugen. Und bleibt die Sonne hinter grauen Wolken, dann ziehen die Blumen sich eng zusammen, als frören sie nach ihr.

 

Und wer sie von der Sonne nimmt, sie mit nach Hause bringt und in ein Glas stellt, der ist betrogen; sie blüht ab, ohne sich zu öffnen, welkt und wird greis und grau.

 

 

Aber auf den Gedanken, sie mit in sein Heim zu nehmen, wird niemand kommen; sie ist zu gemein, diese Blume, und ist doch die allerschönste Blume.

 

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Quelle:
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Text: von Hermann Löns (1866–1914)

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